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geschichte

Alsleben und die Seeschifffahrt von Bernhard Gremler

Teil 5: Von den Wassergeistern der Saale

In früheren Zeiten glaubten die Menschen an die Belebtheit der Natur. Alle Erscheinungen, besonders die vier Urelemente Erde, Feuer, Wasser und Luft, wirkten auf die Menschen, als seien sie beherrscht von Göttern, Geistern und Dämonen. Diese Wesen jenseits der Menschenwelt sandten Heil und Unheil aus diesen Elementen, verteilten Gutes und Böses. Man musste sich mit ihnen gut stellen, musste sie anerkennen, versöhnen, musste ihnen Opfer bringen. Bekannt ist aus alter Zeit sowohl von Germanen wie von Slawen, dass den Flussgöttern Blumengebinde als Opfergabe dargebracht wurden. Auch Tieropfer sind überliefert. Vielleicht mussten in schlimmen Zeiten sogar Menschen als Versöhnungsgabe ihr Leben lassen.

Unser Heimatfloß, die Saale, gehört durchaus in diese Reihe.

Die Überschwemmungen der Saale, die in früheren Zeiten geradezu katastrophale Ausmaße annehmen konnten, spiegeln sich in den Chroniken der Ortschaften am Fluss unauslöschlich wider. Der Glaube an die Wassergeister, an die Flussgötter, die solch Unheil auslösten, wurde durch diese Naturkatastrophen entscheidend geprägt.
Eine Reihe menschlicher Tätigkeiten hatte von altersher auf Gedeih und Verderb mit dem Fluss zu tun. Fischer und Fährleute, Schiffer und Flößer, dazu die Wassermüller – nichts ging ohne den Fluss, ohne das Wasser und ohne seine Geister.
In den Tiefen der Flut wohnten sie, die Nickerte, die männlichen Geister des nassen Elements. Dazu die Nixen, ihre weiblichen Gefährten. Der Name kommt vom altnordischen "nykr" und erfuhr mannigfache Abwandlungen wie Nöck, Näck, Neck, Nick, bis zur heutigen Sprechform Nicker oder Nix. Das Wort bedeutet soviel wie "der Badende", "sich mit Wasser Benetzende", sinngemäß auch: "Der im Wasser Wohnende".
An der Saale waren durchaus regionale Eigenheiten zu er kennen. Im anhaltischen Teil des Saalelaufes hieß der Flussgott "Nickert". Im preußischen Bereich dagegen und speziell im alten Schifferort Alsleben nannte man den Flussgeist "Nickermann", oft auch "Nicker".
Der Nickert wohnte im Flussgrund am Prinzenwerder bei Bernburg. Er besaß eine breite Gestalt, galt allgemein als gutmütig und half den Menschen in Wassernöten. Wer ihn allerdings verspottete, nicht anerkennen wollte, eine freundliche Gabe verweigerte, der hatte die Rache des Nickerts zu fürchten. Am Nickertsumpf bei Plötzkau, einem morastigen Altwasser der Saale, gab es manch Menschenleben zu beklagen. Der Nickert hatte sich dann in der Vorstellung der Menschen am Fluss ein Opfer geholt.
In dem kleinen Fischer- und Fährort Großwirschleben, ursprünglich eine Siedlung der Saalewenden mit dem Namen "Wieserepp" oder "Wischeribben", hielt sich ein uraltes kultisches Brauchtum für den Nickert bis in unser Jahrhundert. Es hieß der "Saaletanz" und wurde als Volksfest am "Knoblauchsmittwochs" (das ist der Mittwoch nach Pfingsten) gefeiert. Der Ablauf vollzog sich nach altem Ritual. Erst reinigte man die Brunnen und Wasserfassungen des Ortes. Dann zog eine jugendliche Festschar unter allerlei Mummenschanz hinunter an die Saale. Die Mädchen bildeten am Ufer eine neckische Formation und sangen auf den Fluss hinaus:
"Herr Nickert, Herr Nickert, da sind wir nun hier und tanzen im Wasser ein Tänzchen vor dir. Du bist in der Mitte, so tanze voran, es folgt dir gerne wer Lust hat und kann."
Nun wurde das Wasseropfer vollzogen. Die Burschen fingen die Mädchen ein und trugen, tauchten oder schubsten sie im flachen Uferbereich in die Saale. Spritzen und Plantschen gehörten dazu. Auch die Zuschauer kamen an die Reihe, so dass wohl keiner trocken blieb. Hatte man sich ausgetobt, bildeten die Mädchen nochmals einen Chor und verabschiedeten sich vom Fluss und seinem Gott mit dem Vers:
"Herr Nickert, Herr Nickert, für diesmal gemacht ist nun unser Tänzchen im Saalstrom vollbracht. Wenn der Knoblauchsmittwoch wieder erscheint, dann tanzen wir weiter in Eintracht vereint."
Nun eilte man heim und legte Feiertagskleidung an. Auf dem Dorfplatz lockte die Festmusik alle wieder herbei. Hier feierte man bei Ausschank und Tanz bis in die Nacht hinein. Am Ufer aber herrschte wieder Stille. Nur der Saalestrom zog dahin wie eh und je und der Nickert in den Fluten stieß glucksende Laute der Zufriedenheit aus über so viel Anteilnahme durch die Menschen.
Uraltes Brauchtum, Brauchtum mit Nachklängen aus der Heidenzeit, hielt sich hier an der Saale über erstaunlich lange Zeiträume hinweg. Der Bezug auf den Flussgott der Saale wurde dann aber aufgegeben. Als Ersatz feierte man noch eine Zeit lang den "Hammeltanz" der Bauern und Landarbeiter.
Auch der Nickermann hauste in der feuchten Tiefe des Saalestromes. Am "Malm" bei Alsleben befand sich am Ausgang des "Lyrabogens" der Saale eine gefährliche Flussenge. Sieben Meter tief hatte hier der Strom den Flussgrund ausgehöhlt. Wer hier versank, kam niemals wieder. Der Nickermann hatte ihn für immer geholt.
Die Sage kündet saaleauf, saaleab von den vielen, oft abenteuerlichen Begegnungen zwischen Menschen und Wassergeistern. Eine kleine Auswahl soll hier erfolgen.
Neben dem Nickert, dem Flussgott der Saale, lebten in den Tiefen der Fluten noch weitere Wasserwesen. Es waren die Nixen der Saale, auch Saaleweiblein genannt und ihre männlichen Artgenossen, die Nicker oder Nickermänner, oft auch nur "Nix" genannt. Von Saalfeld am Oberlauf des Flusses bis zur Mündung in die Elbe schlingt sich ein reiches Band von Sagen um diese geheimnisvollen Wesen.
Die Nickermänner kommen nicht gut weg. Sie erscheinen mürrisch, ungerecht, menschenfeindlich. Dabei waren sie reich, verfügten über alle Schätze, die im Flussgrund ruhten. Häufig holten sie Hebammen von der Erde hinab in ihr feuchtes Reich, um ihren Nixfrauen in Kindesnöten zu helfen. Wehe der Menschenfrau, die für ihre Hilfe habgierig nach dem Golde griff, dass der Nix ihr anbot. Dann musste sie zwei Kräutlein bei sich haben, Dosten (Wohlgemut) und Dorant (Helfkraut), sonst drehte der Nix ihr den Hals um, oder sie musste ihr Leben lang bei ihm dienen. Daher der Spruch:
"Gegen Nixen Übermut ist Dosten und auch Dorant gut."
Auch sonst griffen die Nixe um sich. Eine Frau, die in ihrem Keller, Bier holen ging, wurde von einem Nix bedroht. Er stieg aus einer Bodenlache und griff nach dem Bier. Aber sie trug Dosten bei sich, und der Wassergeist verschwand mit den Worten:
"Kämst du nicht mit diesem Dosten, wollte ich dein Bier verkosten."
Ein Nix lockte nachts eine Frau aus ihrem Hause, indem er Gestalt und Stimme ihres Mannes annahm. Mit der Ankündigung, ihr etwas Seltsames zeigen zu wollen, führte er sie zum Fluss. Sie mussten aber durch einen Kräutergarten, und er sprach:
"Zu hurtiger Eile heb dein Gewand und falle mir nicht in diesen Dorant."
Da erkannte sie, dass er ein Nix war. Sie ließ sich fallen und griff nach dem Kräutlein. Der Nix aber sprang davon und verschwand im Wasser. Menschenopfer, die es häufig durch Ertrinken in der Saale gab, schrieb man den Nixmännem zu. Den Kindern lehrte man den Reim:
"Nix in der Grube bist ein böser Bube.
Wasch dir deine Beinchen mit roten Ziegelsteinchen."
Waschen mit Ziegelsteinen bedeutete wohl, dass der Nix für seine Untaten auch bluten sollte im Sinne menschlicher Rache.
In wesentlich besserem Licht erscheinen die Nixen. Sie kamen häufig an Land, bewegten sich wie Menschen, kleideten sich wie Menschen, kauften ein wie Menschen, zahlten stets mit gutem Gelde, und redeten wie Menschen. Ihr Sprechen klang allerdings etwas Kauderwelsch und unbeholfen wie bei Kindern. Daran konnte man sie erkennen. Noch sicherer war das Erkennen am feuchten Saum ihrer Kleider. Ständig troft etwas Wasser herab. Hielten sie sich längere Zeit an einer Stelle auf, entstand um sie eine kleine Lache.
Von großem Liebreiz waren die jungen Nixen, die Saaleweiblein. Mit ihrem langen blonden Lockenhaar und der wohlgeformten Gestalt lockten sie immer wieder junge Männer herab in die Tiefe des Wassergrundes. Doch die Sehnsucht nach der Erde, nach Sonne und Licht, nach Grünen und Blühen trieb die Jünglinge wieder weg aus dem grauen und feuchten Wasserreich. Wurde dabei ein gegebenes Wort gebrochen, konnte die Rache der Wasserfrauen bis in den Tod hinein anhalten. Sie endete immer tragisch, die verführerische und geheimnisvolle Begegnung der Menschenwelt mit der Welt der Wassergeister.

Es ist nicht verwunderlich, dass bei einem so naturverbundenen Gewerbe wie der Schifffahrt der Aberglaube eine große Rolle spielte. Wasser, Wetter, Wind, das waren Erscheinungen, die stimmen mussten. Sonst ging es nicht voran mit der Flusschifffahrt. Aber Wasser, Wetter, Wind konnte der Mensch nicht beeinflussen. Hier wirkten Mächte jenseits der Menschenwelt. Mit ihnen musste man sich gut stellen. Man musste sie anerkennen, versöhnen, musste ihnen Opfer darbringen. Für den Nickert, den Flussgott der Saale, warfen die Schiffer an den gefährlichen Stellen des Stromlaufs eine Opfermünze ins Wasser. Passierte etwas Nachteiliges, brach ein Staken, riss ein Tau, flog ein- Segel davon, oder ertrank gar ein Mensch, dann war die Opfergabe zu gering, wurde nicht anerkannt, kam zu spät, oder wie auch immer. Der Nickert hatte sich ein Opfer geholt.
Unter dem Einfluss des Christentums verblasste nach und nach der Glaube an die Flussgeister. Dafür trat Johannes der Täufer auf den Plan. Er wurde zum Lenker der Gewalten, die das Treiben auf dem Fluss bestimmten. Seiner musste man gedenken. Ihn musste man anerkennen und achten. Denn auch er trachtete nach dem Leben der Menschen, die sich ihm unliebsam machten. Er zog sie hinab in die Fluten der Saale, wo sie grässlich ertranken. Besonders gefürchtet war der 24. Juni eines jeden Jahres, der Johannistag. Kein Schiffer ging an
diesem Tag ohne Not auf den Fluss. Wer jetzt den Täufer störte durch allzu geschäftiges Werken, weckte seinen Zorn. Schnell geschah ein Unglück mit Boot oder Besatzung. Dann musste der Schiffer laut den Täufer anrufen, um sich frei zu machen. In größter Eile war festes Land aufzusuchen. Sonst ließ ihn Johannes nicht los und ein Unheil geschah. Ertrank gar ein Mensch am Johannistag, so hatte ihn der Täufer geholt. Wer aber wollte das riskieren. So ruhte in vergangenen Jahrhunderten an diesem Tag zumeist die Schifffahrt.
Das Ritual des "Johanisbades", eines symbolischen Eintauchens in einen Fluss zu Ehren des Täufers, wurde an der Saale kaum gepflegt. Auch die Tatsache, dass die ehemalige Stiftskirche auf dem Schloss- oder Klosterberg bei Alsleben den Namen des Täufers trug, weist eher auf Bekennertum und Mission hin, als auf Verbindungen zur Saaleschifffahrt.
Aber ein Blumengebinde zur Versöhnung setzte mancher Schiffer am Johannistag auch in den Fluss und ließ es mit Segenswünschen vom Strom dahin-tragen.
Die Menschen am Fluss mussten sich also in Acht nehmen vor den Wassergeistern der Saale. Doch auch gute, wohltuende Wesen gab es in den Fluten. Die Alslebener Schiffer glaubten früher an den Segen, den ihnen die Saale - Nixe Undine bringen sollte. Wer Fleiß und Gerechtigkeit übte auf dem Wasser und der Nixe vertraute, dem brachte sie gute Fahrt und wirtschaftliches Vorauskommen. So nannte man dann auch den ersten Schifferverein an der Saale, er wurde 1890 in Alsleben gegründet, nach der hilfsbereiten Wasserfee "Undine". Im benachbarten Mukrena wurde 1893 ein weiterer Verein der Saaleschifffer gegründet.

Der Mukrenaer Schifferverein bekam den Namen "Neptun". Man wählte also den Gott der Meere als Namenspatron. Damit ging man beträchtlich über den Rahmen des Heimatflusses hinaus. Aber in dem kleinen Mukrena, das viele Fremde für einen Vorort von Alsleben halten, lebte eine stolze Tradition. Fast alle Männer waren damals "auf Schifffahrt". Das schuf Eigenständigkeit, die es wohl zu wahren galt. Das zeigen auch jene volkstümlichen Verse, die als ,-,Mukrena-Lied" einst weit bekannt waren. Sie sollen an dieser Stelle noch einmal in das Gedächtnis zurückgerufen werden.
"Wo sich die Saale rümmt und krümmt und ihren Weg zur Elbe nimmt, da liegt im Winkel ganz allene ein kleiner Ort, der heißt Mukrene. An Häusern hat er etwa vierzig,
und wers nicht glauben will, der irrt sich. Fast alle Männer Schifffahrt treiben. Die Frauen meist zu Hause bleiben, versehen Haus und Feld und Garten, tun nebenbei die Kinder warten. Doch wenn der Vater kehrt zurück, dann herrscht im Hause großes Glück. Er bringt die Taschen voller Geld, und manches, was auch sonst noch fehlt. Wo keine Not ist, da herrscht Mut –Hoch lebe das Mukrener Blut!"
In Alsleben blieb man der holden Undine treu. Es gab keinen Grund, sich von der segensreichen Saalenixe zu trennen.