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Als die Saale plötzlich weg ist

Naturphänomen 1575 in Alsleben

Von Bernhard Gremler
Im Jahr 1575 liegt das Flussbett der Saale zwischen Trebnitz und Alsleben sechs Stunden lang völlig trocken. Viele Menschen erfasste Verzweiflung. Verunsicherung breitete sich aus. Was also war mit der Saale geschehen?

Alsleben.

Am 8. März des Jahres 1575 war das Wasser der Saale auf einmal und plötzlich weg. Das schreckliche Geschehen begann bei Trebnitz und ging bis unterhalb des Dammes (Wehres) von Alsleben und währte von morgens sechs bis zwölf Uhr mittags. Die Saale war also verschwunden, das Flussbett fiel trocken bis auf Rinnsale, in denen man Fische fangen konnte. Der Flussgrund lag bloß und war sichtbar. Man konnte hindurchwaten, die Fähre und die Kähne lagen trocken wie an Land. Auch in der „Chronik der Stadt Alsleben a. d. Saale“ von Brigitte Haberland aus dem Jahr 1997 findet man eine anschauliche Schilderung des damals wohl Unfassbaren.

Viele Menschen erfasste Verzweiflung. Verunsicherung breitete sich aus. War das die Strafe Gottes gegenüber der sündigen Menschheit, der Beginn der Apokalypse? Immerhin konnten sich die Geschicktesten an einer kostenlosen Fischmahlzeit erfreuen vor dem schmerzlichen Gang ins düstere Jenseits. Nach qualvollen sechs Stunden folgte die durchaus irdische Erlösung: Die Saale war wieder da!

Wasser fließt in Höhlen

Wie man sich auch informieren mag, hier oder woanders, von dem Phänomen einer Flussschwinde hat kaum jemand etwas gehört. Was also war mit der Saale geschehen? Vom Harz her zieht ein schmales Felsenband aus sehr festem Gestein nach Osten und wird von der Saale in einem romantischen Durchbruchstal gequert: die Halle-Hettstedter-Gebirgsbrücke. Am Westufer zwischen Brucke und Nelben liegt der schmale Wald- und Felsgürtel der „Zickeritzer Schweiz“. Im Osten erstrecken sich hintereinander die Felsschluchten der sogenannten „Gründe“, die die Namen „Teufelsgrund“, „Parnenaer Grund“, „Pfaffengrund“ und „Nelbener Grund“ tragen. In tieferen Schichten liegt ein Zechsteinmassiv mit erzhaltigen Adern, die ab dem Jahre 1350 dazu führten, nach Kupfer zu schürfen. Die Nachhaltigkeit des Unternehmens war durch Herrschaftswechsel, Geldmangel, Kriege und magere Ausbeuten fast ständig in Frage gestellt, auch wenn man bei Strenznaundorf und Golbitz weitere Schächte einschlug. Nach dem katastrophalen Wassereinbruch 1750 in die ergiebigste Grube bei Golbitz wurde der Bergbau eingestellt. Die wichtigste Schmelzhütte wurde ab 1550 bei Rothenburg betrieben und nach Ausfall der anstehenden Förderung mit Mansfelder Erzen versorgt.

Nördlich an die Gebirgsbrücke bei Nelben grenzen weichere Gesteine. Das wurde drastisch klar beim Bau der Eisenbahnbrücke. Die südlichen Gründungskörper, die Widerlager, konnten in geringer Tiefe auf dem Fels der Gebirgsbrücke abgesetzt werden. Für die nördlichen Widerlager musste man fast 20 Meter in die Tiefe gehen, um tragfähigen Baugrund zu erreichen. Von dieser Nahtstelle aus, vom Fest- zu Weichgestein, muss die Saale durch die erodierende Fließkraft ihres Wassers unter dem eigentlichen Flussgrund Seiten- und Nebenhöhlen ausgewühlt haben. Man kann sich eigentlich nur eine sehr lange Zeitdauer dafür vorstellen. Am 8. März 1575 muss dann ein Grundbruch abrupt erfolgt sein, wobei sich ein Schwundloch bildete, in das die Saale ihr Wasser oberirdisch verlor. Laut Chronist Johann Christoph Dreyhaupt erfolgte das recht plötzlich. Mitgeführte Schwemmstoffe, Kiese und Weichgesteine von Abrisskanten - die Saale füllte ihr falsches Tiefenbett selbst wieder zu. Nach sechs Stunden war das für die Menschen damals unfassbare und daseinsbe-drohende Naturspektakel beendet.
An der Saale hellem Strande hatte nun auch zwischen Trebnitz und Alsleben wieder seine volle Berechtigung. Dabei kam das Wasser erst allmählich in das angestammte Flussbett zurück, wie Dreyhaupt ebenfalls notierte. Wie ein Flussbett sich wieder füllt, kann man sich vielleicht ähnlich vorstellen wie die Rückkehr der Flut in einem Wattenmeer.

Es ist sehr erstaunlich, dass der akribisch berichtende Hans Bolting das spektakuläre Ereignis nicht erwähnte. Woran mag das gelegen haben? Die Jahre vor und um 1575 waren für den späteren Alslebener Stadtkämmerer eine Zeit höchster Anspannung. 1572 verstarb der Vormund über die verwaisten Bolting-Kinder und Hans als ältestes musste die schulische Ausbildung in Braunschweig abbrechen und nach Alsleben zurückkehren. Vermutlich tat er das nicht abrupt, eher in Etappen, um einen dokumentierten Abschluss erreichen zu können. In Alsleben übernahm er den Ackerbürgerhof seiner Familie und die Vormundschaft über seine vier jüngeren Geschwister. Unter der verflossenen Vormundschaft muss auf dem Hof einiges vernachlässigt worden sein, so dass Bolting sich gezwungen sah, umfangreiche Baumaßnahmen durchzuführen. Er renovierte das Brauhaus, machte sich so unabhängig von den Zwangsterminen der städtischen Anlage. Das war 1575. Ein Jahr später wurde ein neues Wohnhaus fertig. Das geschah aus gutem Grund, denn Bolting bewegte sich auf Freiersfüßen und fand die Dame seines Herzens in Elisabeth Bobitz aus Laublingen jenseits der Saale. 1576 fand die Hochzeit statt und 1578 erblickte das erste von fünf Kindern das Licht der Welt. Eine aufregende Zeit für den Chronisten, der wohl nur das Notwendigste zu Papier brachte.

Bolting sah Phänomen nicht selbst

Warum aber nicht das zeitweilige Verschwinden der Saale? Die Vermutung liegt nahe, dass er das Ereignis gar nicht augenscheinlich miterlebte, dass er zu dieser Zeit gar nicht in Alsleben war. Möglicherweise war er unterwegs, um Baumaterial heranzuschaffen. Vielleicht zog er am Morgen des 8. März 1575 zum Ackern und Säen hinaus auf seine Felder, die sich bis vor Schackstedt erstreckten, wobei die sechs Stunden der Flussschwinde bei der Heimkehr längst vorbei waren. Er hörte von dem Naturschauspiel in so fantastischen Übertreibungen, dass der korrekte Chronist, der den Fluss wie je zuvor vor seinen Augen dahinfließen sah, lieber auf eine Notiz verzichtete. Die Saale war da, ob eine Weile verschwunden oder nicht und Alsleben konnte seiner Zukunft als Schifferstadt getrost entgegen sehen.
 

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Erstellt: 11.09.2015
Geändert: 11.09.2015
Artikel-ID: 24